Kriminalitätsfurcht und Sicherheitsgefühl
Kriminalitätsfurcht ist ein vielschichtiges Konstrukt, das als allgemeines Sicherheitsgefühl sowie als personale und soziale Kriminalitätsfurcht differenziert betrachtet und gemessen werden kann.
Das allgemeine Sicherheitsgefühl der Bevölkerung ist ein Indikator für Kriminalitätsfurcht. Es fokussiert die raum- und zeitbezogenen Alltagssituationen der Menschen. Die relevanten Bezüge der vorliegenden Untersuchung sind dabei die Wohnung und die Wohngegend, der öffentliche Raum (auch ÖPNV) und der Online-Raum in unterschiedlichen Nutzungsformen zur Tages- und Nachtzeit. Hierzu zählt die Frage: „Wie sicher fühlen Sie sich nachts ohne Begleitung in Ihrer Wohngegend?“; sie gilt als Standarditem zur Operationalisierung des Sicherheitsgefühls, das international vielfach verwendet wird (kritisch zu Reliabilität und Validität vgl. Noack 2015).
Die personale Kriminalitätsfurcht ist als individuelle Sorge und Betroffenheit der Menschen vor Kriminalität zu verstehen. Die Messung erfolgt nach Boers (1994) in Anlehnung an die Einstellungsforschung der Sozialpsychologie auf der emotionalen Ebene (affektive Kriminalitätsfurcht), der persönlichen Risikoeinschätzung (kognitive Ebene) und dem Schutz- und Vermeideverhalten (konative Ebene) der Menschen.
Die soziale Kriminalitätsfurcht fokussiert die Bedrohung der Gesellschaft durch Kriminalität. Relevante Aspekte sind die Einstellungen der Menschen zur Justiz und zum Sanktionssystem bzw. den Institutionen der strafrechtlichen Sozialkontrolle (Bundesministerium des Innern/ Bundesministerium der Justiz 2006).
Die vorliegende Untersuchung fokussiert das Sicherheitsgefühl der Menschen und die personale Kriminalitätsfurcht. Sie erstreckt sich damit auf einen breiten Bereich potentieller Einflussfaktoren der Kriminalitätsfurcht und ermöglicht in dieser Ausrichtung grundsätzlich Vergleiche mit anderen Untersuchungen auf Bundes- oder Länderebene, z. B. „Sicherheit und Kriminalität in Deutschland“ des BKA (SKiD, Birkel et al. 2022) sowie die „Befragung zu Sicherheit und Kriminalität in Niedersachsen“ des LKA Niedersachsen (Bosold et al. 2024).
Alter Geschlecht Migrationshintergrund Wohnortgröße
Die Untersuchung bestätigt die Bedeutung der eigenen Wohnung/des eigenen Hauses für das Sicherheitsgefühl der Menschen in Baden-Württemberg. Mit Blick auf alle abgefragten Kategorien fühlen sich die Baden-Württembergerinnen und Baden-Württemberger „nachts alleine in ihrer Wohnung/ihrem Haus“ am sichersten (93,3 % eher/sehr sicher). Ähnliche Ergebnisse zeigen sich auch in der bundesweiten SKiD-Studie sowie in Niedersachsen. Dort fühlen sich 7,9 % bzw. 8,3 % nachts allein in der eigenen Wohnung oder im Haus eher/sehr unsicher, in Baden-Württemberg sind dies 6,7 %.
Ein hohes Sicherheitsgefühl zeigt sich auch in der eigenen Wohngegend im Allgemeinen (90,6 %) und bei der Teilnahme am Straßenverkehr (84,5 %). Vergleiche mit den Studien des BKA (SKiD) und aus Niedersachsen sind an dieser Stelle nicht möglich, da diese andere Formulierungen der Fragestellungen („tagsüber ohne Begleitung in der Wohngegend/in ihrer Nachbarschaft“) verwendet haben.
Am stärksten ausgeprägt ist das Unsicherheitsgefühl in Baden-Württemberg nachts ohne Begleitung im öffentlichen Personennahverkehr (54,5 % eher/sehr unsicher), bundesweit (SKiD-Studie) sind dies 53,7 %. Nachts ohne Begleitung im öffentlichen Raum fühlen sich in Baden-Württemberg 47,1 % eher oder sehr unsicher, was vergleichbar ist mit 53,7 % in der SKiD-Studie und 52,1 % in Niedersachsen.
Das Unsicherheitsgefühl, gemessen mit dem Standarditem „nachts ohne Begleitung in der Wohngegend“ liegt in Baden-Württemberg bei 24 % (eher/sehr unsicher), so auch in Niedersachsen, auf Bundesebene liegt es etwas höher (28 %).
Im Online-Raum zeigt sich ein beachtliches Unsicherheitsgefühl. Während sich ca. Dreiviertel der Befragten (74,4 %) bei der Nutzung noch eher sicher oder sicher fühlen, stellt sich das für die Nutzung Sozialer Medien vergleichsweise schlechter dar; fast die Hälfte (45,2 %) fühlt sich bei dieser Tätigkeit eher oder sehr unsicher.
Insgesamt zeigt sich, dass die deskriptiven Ergebnisse auf der Basis vergleichbarer Fragestellungen in ähnlichen Wertebereichen liegen und mit den Ergebnissen anderer Studien zum Sicherheitsgefühl auf Landes- oder Bundesebene gut vergleichbar sind.
Die affektive Kriminalitätsfurcht bildet als Teil der personalen Kriminalitätsfurcht die individuelle Sorge und Betroffenheit der Menschen vor Kriminalität ab. Diese Befürchtung wurde in der vorliegenden Untersuchung raum- und zeitunabhängig in Bezug auf folgende Delikte erhoben:
- Diebstahl
- Körperverletzung
- Sachbeschädigung
- Kriminalität im Internet und bei der Nutzung Sozialer Medien
- Wohnungseinbruch
- Überfall / Raub
- Sexuelle Belästigung / sexueller Missbrauch
- Stalking
- Teilnahme am Straßenverkehr
- Vorurteilskriminalität
- Terrorismus.
Die folgenden für Baden-Württemberg berichteten Ergebnisse lassen sich mit den Studien des BKA (SKiD) und aus Niedersachsen nicht unmittelbar vergleichen, da diese andere Skalen verwendet haben; es zeigen sich aber vergleichbare zentrale Tendenzen.
Die höchste Beunruhigung in Baden-Württemberg betrifft die Furcht vor Kriminalität im Internet. 56,6 % der Befragten haben manchmal, oft oder sehr oft die Befürchtung, dass sie davon betroffen sein könnten. Etwa die Hälfte der Befragten befürchtet (manchmal, oft oder sehr oft), dass Ihnen etwas gestohlen werden könnte (50,7 %), dass sie bei der Teilnahme im Straßenverkehr verletzt werden könnten (49,9 %) oder dass sie von Kriminalität bei der Nutzung Sozialer Medien betroffen sein könnten (49,4 %).
Am wenigsten befürchten die Befragten, dass sie von Stalking/Nachstellung betroffen sein könnten, 86,3 % haben diese Befürchtung selten oder nie. Ebenfalls gering (selten oder nie) ist die Befürchtung, sexuell missbraucht werden zu können (84 %) bzw. die Furcht vor Vorurteilskriminalität (82,9 %).
Unter dem oben genannten Vorbehalt des Vergleichs mit anderen Studien zeichnen sich tendenzielle Übereinstimmungen in Niedersachsen mit Blick auf eine Furchtdominanz für Eigentumsdelikte und bei der bundesweiten Befragung (SKiD) für Internetbetrug ab.
Die kognitive Kriminalitätsfurcht stellt die Risikoeinschätzung dar, selbst Opfer eines bestimmten Delikts zu werden, wobei es sich bei den abgefragten Delikten um dieselben handelt, die auch hinsichtlich der individuellen Sorge vor Betroffenheit (affektive Kriminalitätsfurcht) als abfragerelevant erachtet wurden. Die Risikoeinschätzung sollte für einen Referenzzeitraum von 12 Monaten erfolgen.
Bei der Einschätzung des persönlichen Risikos, Opfer bestimmter Straftaten zu werden zeigt sich ein vergleichbares Bild wie im Bereich der affektiven Kriminalitätsfurcht. 29,9 % der Befragten halten es für eher oder sehr wahrscheinlich, innerhalb der nächsten 12 Monate Opfer von Internetkriminalität zu werden, 24,8 % befürchten eine Schädigung in den Sozialen Medien. Im Vergleich dazu schätzen nur 13,1 % das Risiko eines Wohnungseinbruchs als eher oder sehr wahrscheinlich ein, während 8,5 % dies für Körperverletzung und 9,9 % für Vorurteilskriminalität angeben. Die Wahrscheinlichkeit der Opferwerdung durch Vorurteilskriminalität wird somit von der Bevölkerung in Baden-Württemberg ähnlich wie im bundesweiten Durchschnitt (10,1 %) eingeschätzt, aber deutlich häufiger als in Niedersachsen (4,4 %). Ein ähnliches Muster zeigt sich bei der Wahrnehmung des Risikos von Körperverletzungen (Niedersachsen: 6,1 %, SKiD: 9,7 %) sowie von Wohnungseinbrüchen (Niedersachsen: 14 %, SKiD: 18 %). Zudem betrachten 34 % der deutschlandweiten Bevölkerung das Risiko, Opfer eines Internetbetrugs zu werden, als eher oder sehr wahrscheinlich.
Neben dem allgemeinen Sicherheitsgefühl, der gefühlsbezogenen (affektiven) Kriminalitätsfurcht und der persönlichen Risikoeinschätzung (kognitive Kriminalitätsfurcht) ist eine dritte Dimension von Relevanz, wenn es um den Einfluss von Kriminalität auf das Alltagserleben geht. Die verhaltensbezogene oder auch konative Kriminalitätsfurcht betrifft das Schutz- und Vermeidungsverhalten einzelner Personen. In der landesweiten Sicherheitsbefragung wurde dieses anhand von 22 Items abgefragt, die sich auf die Bereiche Verhalten im öffentlichen Raum, Wohnungseinbruch, Selbstverteidigung/Abwehr und Schutz- und Vermeidungsverhalten im Internet beziehen. Die Einleitung der Aussage war dabei stets, „Um mich vor Kriminalität zu schützen …“, welche dann z. B. mit „verlasse ich nachts nur in Begleitung das Haus.“ fortgesetzt wurde. Die Aussage konnte mit den Antwortoptionen „nie“, „selten“, „manchmal“, „häufig“ und „immer“ beantwortet werden. Über die oben genannten thematischen Bereiche wird im Folgenden getrennt berichtet. Teilweise können die Verhaltensweisen mit anderen Dunkelfeldstudien auf Bundes- oder Länderebene, so z. B. „Sicherheit und Kriminalität in Deutschland“ des BKA (SKiD, Birkel et al. 2022) sowie die der „Befragung zu Sicherheit und Kriminalität in Niedersachsen“ des LKA Niedersachsen (Bosold et al. 2024) verglichen werden. Dies erfolgt am Ende des Abschnitts zum Vermeidungs- und Schutzverhalten.
Beim Verhalten im öffentlichen Raum sind v. a. das Meiden von bestimmten Straßen, Plätzen oder Parks (42,7 % häufig/immer) sowie das Verhalten Fremden, denen man nachts begegnet, nach Möglichkeit auszuweichen (41,2 % häufig/immer) stark ausgeprägt. In einem ähnlichen Bereich liegen die Werte für das Vermeiden des ÖPNV in der Nacht (38 % häufig/immer), gleichwohl ist hier jedoch auch der Anteil derer, die das nie praktizieren deutlich höher und die Verteilung der Antworten ist stärker polarisiert. In etwa ein Viertel der Befragten gibt an häufig oder immer zu vermeiden, nachts das Haus zu verlassen (25,1 %) oder nachts nur in Begleitung das Haus zu verlassen (24,5 %). Gleichzeitig ist dies für deutlich mehr als die Hälfte nur selten oder nie der Fall. Die genauen Werte können der Abbildung entnommen werden. Inwieweit diese fünf Arten des Vermeidungsverhaltens mit dem Alter, dem Geschlecht etc. zusammenhängen wird an späterer Stelle geklärt. Vorab sei erwähnt, dass hier z. T. starke Unterschiede erwartbar sind, die beispielsweise durch erhöhte Vulnerabilität erklärt werden können.
Wenn es um die eigenen vier Wände geht, gibt ca. die Hälfte der Befragten an, dass sie ihre Wohnung oder ihr Haus nicht besonders sichern. Etwa ein Viertel gibt an, dies häufig oder immer zu tun (23,9 %). Die Beurteilung dieses Verhaltens kann aus zwei Perspektiven betrachtet werden. Zum einen spiegelt sich darin eine gewisse Unsicherheit, zum anderen kann eine zusätzliche Sicherung auch Ergebnis polizeilicher oder auch medial vermittelter Kriminalprävention sein. Dafür, dass die Wohnung oder das Haus während der eigenen Abwesenheit bewohnt wirkt, sorgen ca. 38 % häufig oder immer. Manchmal und selten machen dies jeweils ca. 18 % der Befragten. Nur ein Viertel macht dies nie (26,7 %). Neben den Aspekten Beleuchtung – v. a. in der dunklen Jahreszeit – sind hier gute Nachbarschaftskontakte hilfreich, wenn es darum geht, während längerer Abwesenheit das Haus oder Wohnung bewohnt wirken zu lassen (z. B. durch das Leeren von Briefkästen etc.). Die präventive bzw. abschreckende Wirkung dieses Verhaltens konnte in unterschiedlichen internationalen Studien auch aus Sicht der Täter belegt werden (z. B. Nee & Meenaghan 2006, Sergiou et al. 2024, Wright & Decker 1994) und ist ebenfalls Teil polizeilicher Kriminalprävention.
In Bezug auf das Schutzverhalten zeigt sich ein relativ eindeutiges Ergebnis; nur die wenigsten tragen Gegenstände zur Selbstverteidigung bzw. zum Schutz bei sich. Am häufigsten wird hierbei Reizgas oder Pfefferspray mitgeführt. In etwa 17 % geben an, dies selten, manchmal, häufig oder immer zu tun. Diejenigen, die das häufig oder immer tun, gehen mit ca. 5 % in die Gesamtverteilung ein. Deutlich seltener werden Messer mitgeführt. Nur 7 % geben an, dass sie dies überhaupt tun, wobei nur 2 % dies häufig oder immer tun. Noch seltener werden andere Waffen wie z. B. ein Schlagstock oder Elektroschocker mitgeführt. Nur ca. 3,5 % der Befragten machen das überhaupt manchmal, und nur etwa 1 % macht dies häufig oder immer. Eine Bewertung dieses Verhaltens ist mit einer rein univariaten Betrachtung schwierig, und detailliertere Analysen können in folgenden Berichten durchgeführt werden. Selbstverteidigungstraining oder Kampfsport im Zusammenhang mit dem Schutz vor Kriminalität wird von ca. 19 % der Befragten zumindest selten betrieben. Eine weitere Differenzierung über die Antwortkategorien ist hier schwer zu interpretieren, da in der Frage nicht unterschieden wird, inwieweit es sich um einmalige Selbstverteidigungskurse oder regelmäßiges Kampfsporttraining handelt. Detaillierte Zahlen können der Abbildung entnommen werden.
Da die landesweite Sicherheitsbefragung in dieser Form erstmalig in Baden-Württemberg durchgeführt wurde, gibt es keine Referenzwerte für die Einordnung der Zahlen im Hinblick auf die zeitliche Entwicklung. Durch den Vergleich mit anderen methodisch vergleichbaren Dunkelfeldstudien, die das Vermeidungs- und Schutzverhalten ähnlich gemessen haben, lässt sich jedoch abschätzen, inwieweit die Ergebnisse zu den anderen Studien passen und eine Vergleichbarkeit naheliegt. Die „Befragung zu Sicherheit und Kriminalität in Niedersachsen“ (Bosold et al. 2024) nutzte in Teilen nahezu identische Items und Antwortoptionen. Auch bei der Befragung „Sicherheit und Kriminalität in Deutschland“ vom Bundeskriminalamt (Birkel et al. 2022) wurde fast gleich gefragt, wobei die Antwortoptionen etwas variierten („nie“, „selten“, „manchmal“, „häufig“, „sehr oft“ [„immer“ bei KriFoBW]). Im direkten Vergleich der Studien werden im Wesentlichen ähnliche Ergebnisse sichtbar. Dass bei KriFoBW und SKiD deutlich mehr Personen angeben, es zu vermeiden, nachts das Haus zu verlassen oder Fremden nachts auszuweichen, als bei der Befragung aus Niedersachsen, ist höchstwahrscheinlich dadurch zur erklären, dass dort statt „nachts“ „bei Dunkelheit“ im Fragetext verwendet wurde. Dadurch sind je nach Jahreszeit auch die belebteren Abendstunden eingeschlossen. Bei der landesweiten Sicherheitsbefragung gaben deutlich weniger Personen an, Geldgeschäfte über das Internet zu vermeiden, als bei der SKiD-Befragung auf Bundesebene. Dies ist möglicherweise ein zeitlicher Effekt. Prinzipiell sollte bei dem Vergleich dieser Werte noch erwähnt werden, dass diese jeweils repräsentativ für die jeweilige Wohnbevölkerung stehen. Hierbei kann davon ausgegangen werden, dass diese Grundgesamtheiten sich nicht grundlegend, jedoch graduell unterscheiden können, was für Vergleiche mittels multivariater Methoden kontrolliert werden sollte.
Vergleich ausgewählter Werte der landesweiten Sicherheitsbefragung (KriFoBW) mit den Studien „Sicherheit und Kriminalität in Deutschland – SKiD 2020“ (Birkel et al. 2020) und der „Befragung zu Sicherheit und Kriminalität in Niedersachsen 2023“ (Bosold et al. 2024). Jeweils % häufig/immer bzw. häufig/sehr oft (bei SKiD). Die Wortlaute wurden für alle drei Studien vereinfacht zusammengefasst und sind in den einzelnen Studien nicht exakt identisch.
Neben dem Sicherheitsgefühl wurde in der ersten landesweiten Sicherheitsbefragung auch nach dem Wohnumfeld gefragt. Es ist bekannt, dass zwischen dem unmittelbaren Wohnumfeld (z. B. Skogan 1986), der baulichen Gestaltung (z. B. Hanslmaier 2019) oder auch der Wahrnehmung von Zeichen physischer oder sozialer Unordnung – auch „Disorder-Phänomene“ oder „Incivilities“ genannt – (z. B. Brunton-Smith & Sturgis 2011, Oberwittler et al. 2017), sowie dem Sicherheitsempfinden und der Kriminalitätsfurcht Zusammenhänge bestehen. Dies ist vor allem dann von großer Bedeutung, wenn auf kommunaler Ebene untersucht werden soll, inwieweit Problemlagen in Städten ungleich verteilt sind und was dagegen unternommen werden kann (z. B. Herrmann & Dölling 2018). Die landesweite Sicherheitsbefragung möchte in erster Linie Antworten für die Gesamtbevölkerung Baden-Württembergs geben und ein komplexes Design, das Aussagen über einzelne Stadtviertel zulässt, kann in derartige Befragungen nicht integriert werden. Dennoch bieten die Fragen zum Wohnumfeld eine Möglichkeit, das Antwortverhalten einzelner Befragter zu erklären und spezielle Einflusseffekte auf z. B. die wohnortbezogene Kriminalitätsfurcht in statistischen Modellen zu isolieren (z. B. der Effekt des Alters unter Kontrolle der individuellen Wahrnehmung des Wohnumfeldes). Im Folgenden soll ein erster Überblick darüber gegeben werden, wie die Bevölkerung Baden-Württembergs ihr Wohnumfeld wahrnimmt.
In der Befragung wurde zunächst gefragt, wie viele Einwohnerinnen und Einwohner die Gemeinde hat, in der die befragte Person lebt. Diese Gemeindegrößen verteilen sich wie in der folgenden Abbildung dargestellt, wobei nochmals deutlich wird, dass sowohl der ländliche als auch der urbane Raum abgedeckt sind.
Bezüglich der Zufriedenheit mit der eigenen Wohngegend gaben fast drei Viertel (73,7 %) an, dass sie sehr zufrieden (36,8 %) oder zufrieden (36,9 %) mit dieser sind. Nur die Minderheit ist nicht mit ihrer Wohngegend zufrieden, allerdings findet sich dabei die Mehrheit in der Randkategorie „sehr unzufrieden“ (10,1 % an allen Befragten).
Ein wesentlicher Aspekt der Integration in Nachbarschaften ist die Dauer, die man an einem Wohnort verbringt. Diese ist nicht nur dem Lebensalter geschuldet, sondern auch an unterschiedliche Lebenssituationen und -planungen gebunden. In der Sicherheitsbefragung wurde die Wohndauer über eine kategoriale Abfrage erfasst. Hierbei zeigte sich, dass deutlich über die Hälfte der Befragten bereits zehn Jahre oder länger am gleichen Wohnort wohnt. Eine Übersicht bietet die Abbildung zur Wohndauer in der aktuellen Nachbarschaft.
Es ist an dieser Stelle bereits zu erwähnen, dass keine besonders ausgeprägten Unterschiede zwischen der Zufriedenheit mit dem Wohngebiet und der Wohnortgröße sowie der Wohndauer bestehen.
Für die Einschätzung der individuellen Zufriedenheit mit dem Wohnumfeld sowie für das Sicherheitsbefinden in diesem Kontext, spielt oft die physische und soziale Umwelt eine Rolle. In unterschiedlichen Studien konnte gezeigt werden, dass Zeichen physischer und sozialer Unordnung im öffentlichen Raum das Sicherheitsgefühl negativ beeinflussen können (z. B. Brunton-Smith & Sturgis 2011, Oberwittler et al. 2017). Gleichzeitig geht ein hoher sozialer Zusammenhalt sowie hohes Vertrauen in die Nachbarschaft oft mit mehr Zufriedenheit und weniger Kriminalitätsfurcht/Unsicherheit einher (z. B. Lüdemann 2006, Jackson 2004). Beide Aspekte wurden in der Sicherheitsbefragung erfasst und können in weiterführenden Analysen zur Erklärung von Unterschieden bezüglich sicherheitsbezogener Wahrnehmungen genutzt werden. Auf der ersten Ebene der univariaten Beschreibung ist für Baden-Württemberg das Folgende zu berichten:
Die große Mehrheit (86,9 %) ist der Meinung, dass man den Menschen in der Nachbarschaft vertrauen kann. Auch jeweils ca. 80 % der Befragten stimmen der Aussage zu, dass sie zu ihren Nachbarn Kontakt haben (81,5 % stimmt völlig/eher) und dass sie sich auf diese, wenn es darauf ankommt, verlassen können (79,2 % stimmt völlig/eher). In etwa drei Viertel der Befragten geben an, dass sie ihre Nachbarn beim Namen kennen (75,6 % stimmt völlig/eher). Jeweils etwa 70 % stimmen den Aussagen „Wenn etwas in meiner Nachbarschaft nicht in Ordnung ist, gibt es immer Nachbarn, die sich darum kümmern“ (70,3 %) und „Wenn ich in meiner Straße Menschen begegne, weiß ich, ob sie in meiner Nachbarschaft wohnen oder nicht“ (71,4 %) zu. Gegenseitige Besuche zu Hause kommen unter Nachbarn dahingegen seltener vor, wobei auch hier etwa 40 % angeben, dass dies zutrifft. Insgesamt sprechen diese Ergebnisse dafür, dass landesweit von einer positiven sozialen Kohäsion unter Nachbarn ausgegangen werden kann. Dennoch gibt es Personen, die den genannten Aussagen eher nicht oder gar nicht zustimmen (Werte siehe Abbildung). Die Unterschiede in diesem Bereich sind in Teilen durch Alter und Lebensphase oder auch die Wohnortgröße bestimmt, was in zeitlich später folgenden Analysen berichtet werden wird.
Ob das Wohnumfeld positiv oder negativ wahrgenommen wird hängt auch damit zusammen, inwieweit Phänomene physischer oder sozialer Unordnung beobachtbar sind bzw. erfahren werden. Gleichzeitig können diese auch die Kriminalitätsfurch und das Sicherheitsempfinden beeinflussen. Zur Messung dieser „Disorder-Phänomene“ oder „Incivilities“ stehen unterschiedliche Instrumente zur Verfügung, die von Umfragestudien über systematische Beobachtung bis hin zu automatisierter Auswertung von digitalem Bildmaterial gehen. In der Sicherheitsbefragung wurde die subjektive Wahrnehmung von Disorder-Phänomenen anhand von elf Items gemessen (z. B. „Wie oft nehmen Sie Folgendes in Ihrer Wohngegend wahr? Schmierereien an Hauswänden (z. B. illegale Graffiti)“), die mit den Antwortoptionen „nie“, „selten“, „oft“ und „sehr oft“ beantwortet werden konnten. Für die Gesamtstichprobe ist folgendes zu berichten. Bei den physischen Merkmalen räumlicher Unordnung wird über Müll und Abfall auf Straßen, Gehwegen oder Grünflächen sowie falsch oder rücksichtslos geparkte Fahrzeuge am häufigsten berichtet (jeweils ca. 39 % oft/sehr oft wahrgenommen). Jeweils etwa 50 % berichten, dass dies selten der Fall ist. Mit einem Wert von ca. 14 % wird deutlich weniger über Schmierereien an Hauswänden (oft/sehr oft) berichtet, wobei das von etwa 37 % der Befragten nie wahrgenommen wird. Beschädigte Briefkästen, zerstörte Wartehäuschen etc. sowie fehlende, abgeschaltete oder kaputte Beleuchtung auf Straßen oder in Parkanlagen werden am wenigsten oft oder sehr oft beobachtet (jeweils ca. 9 %). Detaillierte Werte können der Abbildung entnommen werden.
Bei den sozialen Disorder-Phänomenen steht die Wahrnehmung von rücksichtslos fahrenden Autofahrerinnen oder Autofahrern an erster Stelle (33,9 % oft/sehr oft), wobei dieses Verhalten relativ weit gefasst ist und sowohl Störungen durch die Tuning-Szene als auch den alltäglichen Verkehrsbetrieb betreffen kann. An zweiter Stelle steht die Wahrnehmung von Gruppen "herumhängender" Menschen (28,9 % oft/sehr oft), wobei hier besonders zu beachten gilt, dass es bei diesem und allen anderen Items um die Beobachtung und nicht die Bewertung dieses Verhaltens geht. Jede fünfte befragte Person berichtet darüber oft oder sehr oft (20,2 %) Lärm auf der Straße (z. B. durch laute Musik) wahrzunehmen. Am wenigsten werden provozierendes Verhalten von Personen oder Personengruppen im öffentlichen Raum (14,4 % oft/sehr oft), Streitereien oder Schlägereien zwischen Menschen in der Öffentlichkeit (6,9 % oft/sehr oft) oder verbale sexuelle Belästigung im öffentlichen Raum (6,8 % oft/sehr oft) wahrgenommen.
Für die Disorder-Phänomene gilt zu beachten, dass all diese Wahrnehmungen an die physische Wohngegend gebunden sind und von Menschen unterschiedlich bewertet werden können. Zudem treten diese oft gemeinsam auf. Im Rahmen der landesweiten Sicherheitsbefragung dient die Messung von Disorder vor allem als Kontrollvariable in vertiefenden Analysen. Dennoch kann an dieser Stelle bereits berichtet werden, dass die Wahrnehmung von Disorder beispielsweise mit der Wohnortgröße zunimmt, wobei die Werte innerhalb der Größenkategorien stark streuen, was teilweise durch nicht kontrollierbare Stadtvierteleffekte zu Stande kommt. Zudem korreliert diese Wahrnehmung deutlich negativ mit dem Mittelwertscore der sozialen Kohäsion der Nachbarschaft und es gibt einen negativen Zusammenhang zwischen der Häufigkeit der Wahrnehmung von Disorder-Phänomenen in und der Zufriedenheit mit der eigenen Wohngegend.
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